Vortrag auf der Tagung Geschichtsdidaktische Medienverständnisse #gld14 am 25./26. April 2014
Wer diese Titelfolie hässlich findet, hat Recht. Aber warum ist sie hässlich? Weil sie kein kohärentes Design hat. Verschiedene Formen, Schriften, Farben aus verschiedenen Skalen, verschiedene Ideen und Philosophien stehen unverbunden nebeneinander. Unterschiedliche Elemente werden aber nur dann als zusammenhängendes Ganzes verstanden, wenn es eine übergeordnete Einheit gibt, die die einzelnen Elemente integriert. Genauso ist es auch mit dem Medienbegriff. Er hat nur dann ausreichend Erklärungswert, d.h. er ist nur dann „schön“, wenn er die Einheit der Differenz bietet.
Hier ist in Kürze, was ich für einen solchen Medienbegriff voraussetze:
- Die Geschichtsdidaktik braucht keinen eigenen Medienbegriff – sie darf keinen eigenen Medienbegriff haben.
- Sie braucht stattdessen denselben Medienbegriff wie alle anderen Einzelwissenschaften, und zwar einen, der folgende Anforderungen erfüllt:
- Er muss wissenschaftlich statt alltagsbegrifflich sein – nicht zu verwechseln mit „alltagstauglich“. Denn es ist falsch anzunehmen, die Wissenschaft wäre komplexer (und darum auch komplizierter) als die Praxis. Ganz im Gegenteil: Die Wissenschaft muss sich sogar bemühen, so komplex wie nötig das Wesentliche der immer viel komplexeren Praxis zu erfassen. Der Begriff muss also auch
- hinreichend komplex statt reduktionistisch simplifizierend sein. Und er muss
- in Kohärenz mit einem ebenso wissenschaftlichen Gesellschafts- bzw. Kulturbegriff und Menschenbild sein.
- Er muss historisch denkend die turbulente Gegenwart konzeptualisieren, die im Zusammenhang mit der „neuen Technologie“ steht.
Wie kann ein solcher Medienbegriff aussehen?
Medien werden – nicht nur im pädagogischen Alltag – meist als Vermittler verstanden, als leere Container, die mit Inhalten befüllt werden und diese von einem Ort zum anderen transportieren. In pädagogischen Kontexten sieht das Verständnis dann so aus:
Ein Subjekt will oder soll sich einen Gegenstand lernend zueigen machen. Das geht nicht direkt, indem er ihn sich im Wortsinne einverleibt, wie man spätestens seit Vygotskij weiß. Auch schon die Wahrnehmung über die biologischen Sinne ist kein direkter und bloß biologischer Vorgang, sondern ein gesellschaftlich vermittelter, der auf sozial erworbenen Wahrnehmungsprogrammen beruht (Wie man sehr schön bei Merlin Donald “A Mind So Rare” nachlesen kann). Wahrnehmen und Lernen brauchen instrumentelle Mittler. Diese vermittelnden Objekte sind jedoch nicht identisch mit Medien. Jedenfalls nicht nach dem modernen wissenschaftlichen Medienbegriff, auch wenn sie im Alltagsgebrauch mit ihnen gleichgesetzt werden. Nach dem modernen Medienbegriff sind Medien, speziell Informations- und Kommunikationsmedien, auf einer anderen epistemologischen Ebene angesiedelt als die „vermittelnden Gegenstände“ Vygotskijs.
Das kann man dann so darstellen:
Das Verhältnis Mittel zu Medium ist dabei kein additives, also kein 3+1-Verhältnis, sondern ein 3 in 4-Verhältnis (Schürmann). Lernprozesse finden auf dem Hintergrund der jeweiligen Medienkonstellation statt.
Die Gleichsetzung von Mittel und Medium (nicht etwa nur der Bezeichnungen, sondern auch der Gegenstände!) ist der Normalfall der pädagogischen Theorie und Praxis; und diese Gleichsetzung ist folgenreich. Aber wenn die „Neuen Medien“ tatsächlich nur neue Arten von Mitteln wären, mit denen Lernobjekte in Gehirne „vermittelt“ werden, ließe sich z.B. nicht erklären, warum sie solche großen Turbulenzen in der ganzen Welt und in allen gesellschaftlichen Bereichen erzeugen, wie sie es doch nachgewiesenermaßen tun.
Was ist die Ebene des Mediums also, was genau ist Medium?
Sinnvollerweise müssen wir von einer Medienkonstellation sprechen, in der alle Medien – alte und neue – in einem historisch spezifischen Gefüge zusammenspielen.
Gesellschaft ist – systemtheoretisch gesehen – immer Prozess und Ergebnis von Kommunikationen. Diese brauchen schon von je her Medien, nicht erst seit den berühmten „Neuen Medien“.
Medien selbst sind komplex und enthalten verschiedene Ebenen: Wir haben die
- Ebene der Geräte, das ist die physisch materielle Ebene, die jeweils spezifische Zugangsvoraussetzung. In Computersprache: die Hardware. Dazu gehören auch die biologischen Geräte, wie z.B. Kehlkopf und Stimmbänder, ohne die das Medium „gesprochene Sprache“ nicht möglich ist. Auch hinter Siri steckt ein Kehlkopf mit Stimmbändern, nämlich der von Susan Bennett. Zweitens gibt es die
- Ebene der Instrumente oder tools. Das ist die Ebene der Medienformen oder Programme. Auf das Medium Sprache bezogen wäre das die linguistische Ebene und die Formen oder Gattungen. Und drittens die
- gesamte mediale Ebene, die sozietale bzw. kulturelle Ebene, in Computersprache: das “Betriebssystem” der Kultur. Das betrifft die Kommunikations-Regeln, die Codes, die Diskurse und Bedeutungszusammenhänge. Die Sprache betreffend wäre das die semiotische Ebene. Es betrifft aber auch die epistemologischen Voraussetzungen, also das, was die Menschen verstehen müssen, um an dieser Kultur teilnehmen zu können.
Ich plädiere dafür, nur diese letztgenannte Ebene „Medium“ zu nennen. Wenn ich die Geräte und die Instrumente schon „Medien“ nenne und alle Begriffe als Synonyme gebrauche, und dann auch noch die Geschichtsquellen als Einzelgegenstände mit diesem Begriff bezeichne, dann ist die Gefahr groß, dass mir der gesamte komplexe Zusammenhang in der Begriffsverwirrung entgeht und ich ihn stattdessen jeweils auf das gerade Sichtbare reduziere . Viele ipad-Klassen-Projekte gehen in diese reduktionistische Falle. Auch die Verwechslung der verschiedenen Ebenen führt zu Verständnisproblemen, die sich auf die Praxis auswirken. Meist wird statt von einem komplexen Zusammenhang von einem gerätetechnischen oder einem instrumentellen Begriff ausgegangen und dann zusätzlich nach der „Verwendung“ und „Nutzung“ gefragt, womit vermeintlich ein gesellschaftlicher Zusammenhang hergestellt ist. Ich halte dieses Verständnis jedoch für eine fatale Entkopplung der einzelnen Ebenen.
Worum es bei den epistemologischen Voraussetzungen z.B. gehen kann, zeigt die Geschichte meines Nachbarn, Herrn Lavendel.
Herrn Lavendel treffe ich morgens beim Joggen. Er ist Biologe und Fotograf, um die 60 wie ich und betreibt eine Fotoagentur mit einer großen Datenback voller Pflanzenfotos. Neulich jammerte er, dass er viel Mühe hätte mit dem neuen System Windows 7 und daher mit seiner eigentlichen Arbeit nicht weiterkäme, weil die „Knöpfe“ schon wieder ganz woanders angebracht wären. Aber das Schlimmste sei, dass er ganz auf sich allein gestellt sei und alles allein herausfinden müsse. Meinen Vorschlag, seine Probleme als Fragen in Google einzugeben, wies er empört zurück: „Ich werde nicht mit toter Software kommunizieren“, sagt er, „ich will mit echten Menschen reden!“
Herr Lavendel versteht nicht, dass er nicht nur neue Software für seinen Computer beherrschen lernen muss (immerhin zum ersten Mal nach 10 Jahren), sondern dass er dabei auch ein neues Lernkonzept lernen muss: eines, das z.B. die Einsicht enthält, dass Probleme mit dem neuen Medium in eben diesem Medium selbst gelöst werden, denn im Gegensatz zum Buch ist es interaktiv.
Was es mit der Notwendigkeit von neuen Lernkonzepten auf sich hat, das versteht man am besten mit historischer Analogie. Und hier kommen wir endlich zu Michael Giesecke. Für Herrn Lavendels Problem hat Giesecke folgende historische Analogie:
Vor dem Buchdruckzeitalter gab es nur zwei Möglichkeiten des Lernens: entweder das zeitraubende Trial-and-Error-Verfahren oder die persönliche Anleitung durch einen Spezialisten. Dabei musste der (teure) Spezialist anwesend sein.
Der Buchdruck setzte sich historisch nicht etwa mit Bibelausgaben durch, sondern hatte seinen gesellschaftlichen Durchbruch, wie Giesecke nachweist, mit der aufkommenden neuartigen Do-it-yourself-Literatur. Es war nun also möglich, schneller, billiger und mit weniger Irrtümern zum gewünschten Lernergebnis oder Arbeitsprodukt zu kommen. Dafür musste aber nicht nur Lesen und das Verstehen von zentralperspektivischen Darstellungen als neue Kulturtechniken gelernt werden, sondern auch ein ganz neues Lernkonzept verstanden werden. Dieses Lernverständnis musste davon ausgehen, dass die persönliche Anwesenheit eines Spezialisten durch interaktionsfreie Kommunikation ersetzbar ist. Dass man so überhaupt neues Wissen und Können erwerben kann, schien bis dahin völlig ausgeschlossen. Und erst, wenn wir verstehen, dass das Beharren auf dem bisherigen Lernbegriff die Aneignung der neuen Kultur verhindert, verstehen wir Herrn Lavendels Probleme, die ja keineswegs ausgefallen sind. Dass Interaktion über das Medium mit dem Medium im Medium, das Befragen des Computers über den Computer also, nicht nur möglich ist, sondern auch sofort die besten Antworten auf die ganz persönlichen Computer-Probleme bringt und der adäquate Umgang mit ihnen ist, erscheint dem buchkulturell Gebildeten unmöglich, wenn er – wie üblich – den zum Buchdruck gehörenden Lernbegriff ahistorisch generalisiert.
Historische Analogie entpuppt sich als eine großartige Methode, wenn man die Gegenwart, in die man verstrickt ist, verstehen will. Darum bevorzuge ich Michael Giesecke und nicht Castells oder McLuhan oder einen anderen prominenten Medientheoretiker. Giesecke ist Kulturhistoriker und Kommunikationstheoretiker; er erfüllt alle oben verlangten Voraussetzungen eines kohärenten theoretischen Begründungszusammenhangs, er denkt konsequent historisch und systemisch. Er schlägt
- ein Konzept der Periodisierung der Menschheitsgeschichte nach Leitmedien vor. Das jeweilige Leitmedium ist dabei dasjenige, das in der historisch konkreten Medienkonstellation den Ton angibt für die mentalen Programme – den Denkraum mitsamt seinen Mythen – und die gesellschaftlichen Konzepte, die diesen Raum organisieren. Die anderen Medien gehen nicht verloren, sind aber nicht bloß Additionen, sondern im Gesamtgefüge dem dominierenden Medium untergeordnet. Das jeweils neue Leitmedium ist das bis dahin komplexeste, es enthält darum die anderen Medien und verändert dabei ihren Platz im Mediensystem. Giesecke bietet zweitens
- eine kritische Aufarbeitung der Geschichte der Buchkultur und v.a. ihrer Selbstbeschreibung. Er konzentriert sich auf die
- empirisch-historische Erforschung des vorigen Epochenwechsels, untersucht jedoch auch die Folgen der Erfindung der Schrift in der vorvorigen Epoche. Dabei bestätigt sich, dass es „strukturelle Ähnlichkeiten und historische Wiederholungen bei der gesellschaftlichen Durchsetzung des jeweils neuen Leitmediums“ gab. Aus den Befunden entwickelt Giesecke sein
- Konzept des Übergangs von einer Epoche in die nächste als besonders kritische, und also gerade für Historiker besonders interessante Zeit.
Den Zusammenhang zwischen neuem Leitmedium und der Entwicklung eines neuen Denkraums (wie es der russische Systemtheoretiker Erik Judin nennt), einer neuen Kultur, zeigt Giesecke in seiner Innovationsspirale:
Dass dieser Prozess sowohl als ein allmählicher, stetiger verstanden werden muss, als auch Phasen enthalten muss, die voller Turbulenz, Verdichtung und Beschleunigung sind, dürfte für Historiker, die sowohl mit dem Konzept Evolution als auch mit dem der Revolution arbeiten müssen, selbstverständlich sein.
Gieseckes medienhistorische Periodisierung der Geschichte kommt zu folgenden Epochen:
- die deiktische Kultur, in der sich die Sprache als Kommunikationsmedium erst koevolutionär mit der Gesellschaft zu entwickeln beginnt.
- die orale, mündliche Kultur: Die sich ausbildende Sprache ermöglicht arbeitsteilige Gesellschaft im Neolitikum und ist zugleich deren Produkt. Die Entwicklung der Spezialisierung im Handwerk ist Voraussetzung für die Erfindung der Schrift; die sich daraus koevolutionär entfaltende
- skriptographische Kultur geht einher mit der Staatenbildung der antiken Hochkulturen. Keine Pyramide ohne schriftliche Informationsverarbeitung. Das heißt keineswegs, dass alle lesen und schreiben können müssen. Im Gegenteil. Auch noch im späten Mittelalter müssen und können weder die Bauern noch die herrschenden Eliten außer den spezialisierten Klerikern und den Kaufleuten lesen und schreiben. Das wird erst nötig mit dem Übergang in die
- typographische Kultur. Erst der Buchdruck und die damit notwendig entstehenden Alphabetisierungsprogramme ermöglichen die Herausbildung von Wissenschaft, Industrialisierung, Nationalstaatlichkeit.
Und jetzt sind wir im Übergang in die - digitale Kultur, „Next Society“, „Postmoderne“, „Informationsgesellschaft“, „Netzwerkgesellschaft“, „Wissensgesellschaft“, „Lerngesellschaft“, „Sinngesellschaft“, „Risikogesellschaft“, „Postwachstumsgesellschaft“ – Die verschiedenen Bezeichnungen, die der nächsten Epoche seit 30 Jahren von bedeutenden Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen gegeben werden, zeigen, dass der Epochenwechsel nicht (nur) erfunden, sondern empfunden und auf vielerlei Weise konzeptualisiert wird.
Jetzt zum Übergangskonzept. Ein Konzept gesellschaftlicher Entwicklung, das sowohl Kontinuität als auch Diskontinuität als Bewegungsformen modelliert, könnte so aussehen:
Der Höhepunkt, gleichzeitig Wendepunkt wäre die Übergangsphase. Dabei müssen wir ihn als zeitlich sehr ausgedehnten “Punkt” verstehen.
Darin findet der Epochenwechsel statt, in der die neue Epoche entsteht, sich durchsetzt, bis sie schließlich selbst wieder an ihren Wendepunkt gelangt.
Es gibt ganz besonders viel Ärger in dieser Zeit. Kulturkämpfe und pausenlose Zusammenbrüche und Neubildungen, die wieder verworfen werden. Vieles ist nur auf Probe und immer mit Risiko. Alles Alte und auch das Neue kommt auf den Prüfstand, es gibt zunehmend Verunsicherungen, „Werte“verfall und Stress in allen Bereichen. Viele Soziologen erheben diese Befunde für unsere Zeit. Aber viele halten sie auch schon für die Merkmale der neuen, noch nie dagewesenen Epoche selbst – bspw. Ulrich Beck mit seiner „Risikogesellschaft“. In diesem Konzept reiht sich Epoche an Epoche.
Gieseckes Konzept sagt stattdessen: Das kennen wir. Das ist die Übergangszeit. Das hatten wir schon mehrfach, nämlich zwischen den Epochen. Genaugenommen reiht sich Übergangszeit an Übergangszeit – dazwischen liegen Epochen der Konsolidierung – unterschiedlicher Dauer. Giesecke versteht Übergangszeiten als eigenen Gesellschaftstypus. Da gibt es Ähnliches, auch wenn die Konkretionen jeweils verschieden sind.
Giesecke untersucht die Beschaffenheit solcher Übergangsgesellschaften. Er legt seinem Konzept das Generationenmodell zugrunde: Von der Kindheit über die Adoleszenz zum Erwachsenen. Er kommt damit zu folgenden 3 Phasen, die diese Gesellschaften durchlaufen:
- 1. Die Phase der Abhängigkeit. Das alte Paradigma gilt unangefochten. Das neue Medium wird zur Optimierung der alten Praxis verwendet. Es soll alte Probleme mit neuen Mitteln lösen. Das ist der „Mehrwert“, den die Pädagogen hierzulande noch immer suchen.
- Die 2. Phase ist die der Gegenabhängigkeit. Immer noch ist man ans alte Paradigma gebunden, aber jetzt wird dagegen rebelliert. Man erkennt die Schwächen des Alten und sucht und findet die Vorzüge des Neuen. Betont wird die Andersartigkeit des Neuen, sozusagen der „Anderswert“ statt des „Mehrwerts“. Die Ökonomie kennt dies mit Schumpeters Begriff der „kreativen Zerstörung“. Die Dialektik nennt es 1. Negation.
- 3. die Phase der Autonomie. Das ist das, was angestrebt wird – Konsolidierung auf hohem Niveau, Unabhängigkeit und Gelassenheit. Erkennen und Entwickeln der spezifischen Leistungspotenziale; Balance zwischen den Medien und multimediale Interdependenz statt neuerliche Leitmedialisierung mit der dazugehörigen aggressiven Abwertung der alten Medien und der Neubildung von Mythen durch Verabsolutierung (Enthistorisierung) des Neuen.
In diese dritte Phase der Autonomie ist die Buchkultur nach Giesecke nie richtig gekommen, sie ist in der Gegenabhängigkeit stecken geblieben und hat ihre Mythen gepflegt und über Generationen verfestigt, die bis heute hartnäckig die Herausbildung eines neuen Gesellschafts- und Lernverständnisses bremsen:
Dazu eine Gegenüberstellung, was die Buchkultur geleistet, und was sie vernachlässigt hat:
Selbstverständlich ist es kein Zufall, dass all diejenigen Aspekte, die vernachlässigt wurden, heute zunehmend wieder Berücksichtigung finden. Dies geschieht bisher – zumindest in Deutschland – jedoch weitgehend außerhalb der Bildungsinstitutionen, die genetisch und durch deren Mystifikationen eng an die Buchgesellschaft gebunden sind.
Was könnte dies alles für das Geschichtslernen und den Geschichtsunterricht bedeuten?
Geschichtslernen – mit digitalen Geräten und Medienformen
In der Phase der Abhängigkeit hieß es, mit den neuen Technologien alte Gesellschaftsprobleme lösen, bzw. alte Unterrichtsziele besser erreichen zu wollen.
Das kennen wir, das haben wir genug gemacht, das hat nicht viel gebracht, das müssen wir jetzt hinter uns lassen. Giesecke schätzte 2002, dass wir uns gesamtgesellschaftlich gesehen im Übergang in die 2. Phase der Gegenabhängigkeit befinden. Wohlgemerkt war das vor dem Durchbruch des Web 2.0 und der Eroberung aller gesellschaftlichen Bereiche durch die Vernetzungsmöglichkeiten der „social media“.
In der derzeitigen Phase der Gegenabhängigkeit stünde jetzt endlich die Erforschung und Erprobung der Andersartigkeit der neuen Technologien auf der Tagesordnung mit der Fragestellung, inwiefern sich mit ihnen neue Probleme, Ziele und Lösungen identifizieren und erkunden lassen.
Den Übergang in die dritte Phase zu beschleunigen, könnte gerade der gesellschaftswissenschaftliche Unterricht, zu dem Historisch Denken Lernen gehört, als seine Aufgabe verstehen. Denn die Menschheits-Probleme heute liegen offenkundig im gesellschaftlichen Bereich und sind nicht mit den Mitteln der Mathematik oder der Natur- und Ingenieurswissenschaften zu lösen. Die Geschichtsdidaktik muss also aufhören, den „Mehrwert“ im Sinne des alten Paradigmas zu fordern, und stattdessen helfen, in allen lebenden Generationen ein adäquates Verständnis für diese Übergangszeit zu erzeugen. Sie muss die Lehrer mit einem neuen Lernkonzept ausrüsten, das sie ermuntert, die „Anderswerte“ in der neuen Interaktivität des Medium zu entdecken. Dazu müssen experimentelle Haltung, Kollaborativität, Ergebnisoffenheit und Personalisierung als wichtige Prinzipien ins didaktische Konzept.
Lernprozess und Funktion des Lehrers
Um die Neudefinition der Lehrerrolle kommen wir dabei nicht herum.
Der Geschichtslehrer muss sich jetzt als Moderator von Lernprozessen mit der historischen Methode und als Coach von Lernenden verstehen, anstatt wie bisher als Vermittler von bereits fertig gedeuteten historischen Gegenständen. Er muss
- die Begegnung mit historischen Gegenständen organisieren;
- die Bildung einer persönliche Beziehung zu diesen Gegenständen ermöglichen;
- echte eigene Fragen der Lernenden gebären helfen;
- den Austausch zwischen den Lernenden organisieren und moderieren;
- Material, Expertenbegegnungen und Orte organisieren;
- Methoden der Bearbeitung von selbstgestellten Aufgaben empfehlen und deren Handhabung zeigen;
- Individuelle Lernprozesse beraten, ermutigen, unterstützen.
Und dann, denke ich, müssen sich auch die Gegenstände des Geschichtsunterrichts ändern:
Ganz sicher kann es nicht mehr um einen chronologischen Durchgang durch das nationale oder eurozentrische bürgerliche Geschichtsnarrativ gehen – erzählt aus der Perspektive des Bürgertums an der Macht.
Wir brauchen stattdessen komplexe Gegenstände im Geschichtsunterricht, die ihre Legitimation aus den (Gattungs-) Problemen der Gegenwart erhalten. Auslöser oder Einstieg in den Gegenstand kann dabei selbstverständlich eine historische Quelle aus tiefster Vergangenheit oder Gegenwart sein – muss aber nicht! Im Zentrum des Unterrichts kann auch nicht generell die Quellenexegese stehen, denn es geht nicht darum, Historiker als Museumswächter der Vergangenheit zu produzieren. Wenn es darum geht, historisch denkende Menschen zu bilden, die die gesellschaftlichen Probleme ihrer Gegenwart lösen können, dann brauchen wir
- mehr Zusammenhangwissen durch transdisziplinären Blick aus globaler Perspektive und zugleich personalisiert im Zugang;
- Longitudinalstudien zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft (bzw. Gattung) – außer Geschichte mindestens noch beteiligt: Philosophie und Soziologie;
- Longitudinalstudien zum Verhältnis von Mensch, Gesellschaft (bzw. Kultur) und Natur – mindestens noch beteiligt: Geographie und Soziologie;
- Longitudinalstudien zum Verhältnis von Mensch, Gesellschaft und Technologie (bzw. Medien) – mindestens noch beteiligt: Soziologie und Medienwissenschaften;
- die Beschäftigung mit der Frage: „Wie begreifen wir die Entwicklungsprobleme unserer Gattung?“ – Dazu muss bearbeitet und geklärt werden, inwiefern im jeweiligen historischen Kontext die verschiedenen Konzepte von Geschichtsverständnis die jeweils entscheidende Rolle spielen, d.h. wann kann/muss ich Geschichte als Akkumulation oder Substitution oder Reproduktion verstehen?
Dies wären zumindest die Themen oder Aufgaben, die sich m.E. nach in unserer Übergangsgesellschaft stellen. Der Geschichtsunterricht wäre natürlich nicht der einzige Ort, an dem Problemlösendes Denken, Versatilisten (statt bloß entweder Spezialisten oder Generalisten), Transdisziplinarität, Systemisches Denken, Personalisierung, Netzwerken und Kollaboration gebildet würden, wie Andreas Schleicher sie zurecht als Kompetenzen des 21. Jahrhunderts benennt. Aber der Geschichtsunterricht könnte eine führende Rolle dabei spielen, solange Soziologie und Philosophie diese Aufgabe nicht übernehmen wollen. Sie liegt jedenfalls direkt vor der offenen Haustür.
