Auf meiner Laufrunde komme ich an einem Spielplatz in einem Park vorbei und verbringe dort regelmäßig ein paar Minuten mit meinem Dehnprogramm. Dabei konnte ich jetzt schon drei mal eine gleich ablaufende Episode beobachten:
Ein Elternteil ist mit einem Kleinkind auf dem Weg zum Spielplatz. Das Kind bleibt zurück, weil es irgend etwas Interessantes am Boden entdeckt hat. Die Reaktion der Mutter bzw. des Vaters: “Komm weiter, der Spielplatz ist da vorne!” – oder: “Wir wollen doch auf dem Spielplatz spielen!” – Einmal fand ein Junge, der den Splitt auf dem Weg zusammenkratzte und davon kleine Häufchen bildete: “Aber ich möchte doch hier noch spielen”, worauf der Vater sagte: “Das ist kein Spielplatz und außerdem ist es schmutzig.” Ich hatte gedacht, soetwas wäre ausgestorben.
Ich selbst bin zum Glück anders aufgewachsen, Mutter sei Dank, die geduldig auf dem Waldwanderweg pausierte und mir zuschaute, wenn ich Ameisen und Mistkäfer oder schöne Steinchen entdeckt hatte. Die beobachteten Eltern oben sind wahrscheinlich keine schlechteren Eltern als meine Mutter. Aber was ist da passiert?
Ich denke, es passiert folgendes: “Spielen” als Tätigkeitsform findet im Alltagsbewusstsein offenbar an einem extra dafür vorgesehenen Ort mit dafür vorgesehenen Geräten statt. Ich will jetzt NICHT dem Waldkindergarten und anderen romantisierenden Pädagogiken das Wort reden. Es geht mir mal wieder um den Begriff (das Konzept, die Auffassung), den wir uns von einer Tätigkeit machen, und der das Möglichkeitsfeld dieser Tätigkeit definiert, d.h. absteckt, und dessen Einschränkungen wir nur dadurch aufheben können, dass wir davon wissen und uns bewusst dazu verhalten können.
Ebenso wie beim Spielen (“Keine Spielsachen in Papas Arbeitszimmer!” – “Mit Essen spielt man nicht!” ) hat unsere Gesellschaft auch einen Lernbegriff und einen Arbeitsbegriff im kollektiven Bewusstsein definiert und ihre Institutionen darauf abgestimmt. Sicher ist der Begriff nicht VORHER da gewesen, sondern – wie immer – gab es vorauslaufende Praxis, bzw. sind Begriff, Tätigkeit und Systeme koevolutionär entstanden. Wichtig zu wissen, finde ich auf jeden Fall, dass sie historisch sind, d.h. geworden, und darum historisiert, d.h. als Gewordene und darum auch als Veränderliche gesehen werden müssen. Erst dann kann man die Veränderung auch denken, wenn sie historisch praktisch eingetreten ist und infolgedessen der Begriff von ihr auf Stand gebracht werden muss.
Wie steht es also mit dem herrschenden Lernbegriff? Was gilt als “Lernen” (und wird also gefördert) und was nicht (und wird darum als Störung in Schule unterbunden)? Und inwiefern ist dieser Begriff schon lange von der Realität – also der vorauslaufenden Praxis – überholt und in Frage gestellt? Inwiefern hinkt unser Lernbegriff hinter der derzeitigen Praxis hinterher und muss darum neu gefasst werden?
Kurzgefasst muss man diese Fragen heute mindestens so beantworten:
1. Der herrschende Lernbegriff stammt aus der Industriegesellschaft, in der ausschließlich explizites, systematisches, formelles, institutionalisiertes Lernen galt und der mit dieser Gesellschaft überhaupt erst entstand – was seine berechtigten Gründe hatte. (Ohne systematisches Lernen war in dieser Industriegesellschaft, so wie sie historisch war, offenbar die Literacy der Bevölkerungsmehrheit sowie die Ausdifferenzierung der Wissenschaftssysteme nicht zu organisieren. Jedenfalls ist diese Lösung historisch konkret geworden und keine andere.)
2. Wir sind nicht mehr in der Industriegesellschaft.
3. Computer Literacy, also ein adäquater Umgang mit dem neuen #Leitmedium, – unabhängig davon, was konkret wir uns darunter vorstellen – wird ganz offensichtlich NICHT systematisch, institutionalisiert und formell erworben, sondern wird in der Realität – also in der vorauslaufenden und derzeit beobachtbaren Praxis – informell, nicht formell, “wild” (Sturzenhecker), spielerisch (!) und während der Arbeit (Learning by doing) erworben. Man sieht: Nicht nur die Prämierung von Lernformen verändert sich in der gesellschaftlichen Praxis, sondern auch die Abgrenzungen zwischen “Spielen”, “Lernen”, “Arbeiten” – die doch die Voraussetzung für die Errungenschaften des Industriezeitalters waren – sind schon eine ganze Weile nicht mehr, was sie waren. Jedenfalls im Leben außerhalb der Schule nicht.
Alle diese Erkenntnisse sind schon lange nicht mehr neu, auch wenn sie erst ganz allmählich in die Bildungsinstitutionen eindringen, wo sie für Unruhe sorgen und iPhone-Projekte oder Netbook-Klassen sowie Service-Learning-Projekte und solche des Forschenden Lernens anregen. Auch ist die Tatsache, dass mit reichlich persönlichem Sinn und freiwillig besser gelernt wird als lustlos und unter Zwang, schon lange bekannt, und trotzdem muss Schule heute mühsam um die Umsetzung von Programmen ringen, die “selbstverantwortetes” Lernen, oder “Selbstlernen” oder “kompetenzorientiertes” Lernen … et al. fördern sollen. Im Grunde gibt es aber all diese pädagogischen Alternativprogramme schon genauso lange, wie es Schule als verpflichtende allgemeinbildende Institution gibt. Denn das Problem – “Wo ist die Freiheit bei all dem Zwange?” nennt es Kant, und Luhmann nennt es das Systemdefizit der Erziehung – ist schon von Anfang an ins System eingeschrieben. Es ging gar nicht anders.
Mit Computer und Internet haben wir dieses alte Problem jedoch auf einer ganz neuen Stufe. Dass das tatsächlich so ist, kann man deutlich an den Befunden des indischen Erziehungswissenschaftlers Sugata Mitra sehen. Seht selbst:
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Mir erscheint es plausibel, Lernen im #Leitmedienwechsel tatsächlich als ein selbstorganisierendes System zu konzeptualisieren. Sugata Mitra formuliert genauer:
Education is a self organisizing system where learning is an emerging phenomenon.
Was mich fasziniert, sind vor allem die Befunde der selbstorganisierenden Lernnetzwerke des Peer-to-peer-Lernens: Es entstehen – überall, wo der Computer unter diesen Setting-Bedingungen aufgestellt wird – auf dieselbe Art und Weise selforganizing learning networks mit Knoten, die organisierende und orientierende Funktionen übernehmen. Auf der Website des Projekts findet man die Geschichte des Hole-In-The-Wall-Project und v.a. eine Menge an Befunden und auswertenden Aufsätzen. Eine angeschlossene pädagogische Methodologie nennt sich Minimally Invasive Education - ein herrlicher Begriff, der allein schon ein sehr nützliches Schulreform-Motto in hiesigen Breitengraden abgäbe!
Und nun zu dem Aufschrei vieler Lehrer, die ich nicht nur so fantasiere, sondern auch schon gehört habe: “Das geht nicht! Den Lehrer kann doch keine Maschine ersetzen! Vielleicht bei denen, aber bei uns geht das nicht!” usw.
Ja, noch nie hat eine Maschine “den Menschen” oder “den Lehrer” generell ersetzt und tut es auch hier nicht. Aber: Es wird deutlich, dass mit dem neuen #Leitmedium auch die Lehrerrolle neu definiert werden muss. Das “Lehren” ist nicht mehr das, was es im Setting “Lehrer, Schüler, Unterricht” oder im Setting “Professor, Student, Seminar” war. Und wenn wir Lehrer und Hochschullehrer die notwendige Neukonzeptualisierung nicht vornehmen wollen, dann tut es eben die Realität für uns ohne uns. So einfach ist das. Ich jedenfalls würde lieber daran beteiligt sein, als es bloß zu erdulden.
Wie man an den Befunden des Hole-In-The-Wall-Projects schon mal sehen kann, muss man dabei zwei Dinge neu klären:
(1) Welche Unterstützungsleistungen braucht das Lernen in einem selbst organisierenden Lernnetzwerk?
(2) Wer kann / muss sie jeweils liefern?
zu 1): Natürlich, da muss jemand sein, der das Projekt in Gang setzt und betreut. Die SOLN (self organizing learning networks) entwickeln sich ja MIT der Gelegenheit, die der aufgestellte Computer erst bietet. Wir hätten uns also dann einen Projektleiter/ eine Projektleiterin als Rollenmodell vorzustellen. Und jeder Lehrer, der Projektunterricht im Deweyschen Sinne macht, weiß, welche Fülle von unterschiedlichen Aufgaben/Rollen er dabei übernehmen muss. Da kann gar keine Rede davon sein, dass er nicht gebraucht wird.
Die Ansage Mitras an die Kinder: “make yourself understood of the computer” – ist projektdidaktisch gesehen eine vorbildliche komplexe Aufgabenformulierung durch den Projektleiter. Aber auch für andere Rollen gibt es schon im Video annekdotische – gleichwohl wichtige – Hinweise, nämlich die “Grandmother Cloud”: If you want to support their learning, “stand behind them and admire them all the time”. Von der richtigen Gestaltung der Lernumgebung, des Lernanlasses, des Settings also, sowie von der situativ im Lernprozess jeweils richtigen Wahl der passenden Rolle aus den vielen Rollen eines Lernprozessmoderators, bis hin zum adäquaten Einsatz von Hilfsmitteln “behind the wall” … das alles erfordert wirkliche professionelle Kompetenz. Lehrerbildung also ganz neu denken!
ad 2) Vieles von dem, was heutzutage traditionellerweise ein Lehrer/eine Lehrerin tut, kann VIEL ERFOLGREICHER von den Netzknoten des Lernnetzwerks – also von Peers – getan werden. Das wären dann diejenigen Kinder, die in eine “Lehrerrolle” kommen, weil sie den anderen zeigen, wie es geht. Oder diejenigen, die neue Kinder zum Lernnetzwerk dazu holen. Und wollen wir als Lehrer denn weiterhin “schlechte Peers” sein? (Also weg mit diesen Aufgaben und dahin, wo sie besser gelöst werden.)
Und viele bisher von Lehrern übernommene Aufgaben sind mit dem Computer schlicht überflüssig geworden, z.B. Material herbeischaffen. Man muss sich mal bitte klar machen, dass dieses Projekt unter anderem auch bewiesen hat, dass es zum Lernen überhaupt nicht nötig – ja wahrscheinlich sogar kontraproduktiv ! – ist, wenn komplexes aus der Realität “didaktisch reduziert” wird. (Also müssen auch die Didaktiker, wollen sie als Profession überleben, sich ziemlich umorientieren. Und wir Lehrer könne endlich das öde Geschäft der Didaktischen Reduktion aufgeben und uns sinnvolleren Dingen im Lernprozessmoderations-Geschäft zuwenden.)
Ist euch auch aufgefallen, dass Mitra wiederholt betont, dass das alles überhaupt nur möglich ist, “in groups” – und zwar in kleinen, erst 4, dann 16 Teilnehmer? Und solche selbstorganisierenden Gruppen haben überhaupt nichts gemein mit den “Arbeitsgruppen” im Schulunterricht, zusammengesetzt vom Lehrer nach weiß der Teufel welchen sadistischen Gesichtspunkten, denen man dann Rollen aufzwingt mit der Unterrichtsmethode “nummerierte Köpfe” … ahh nein! Solche Gruppen haben viel mehr zu tun mit dem, was die Jugendlichen bei uns in der Freizeit machen, sowohl im Real Life als auch in Facebook oder in ihren WOW-Gilden … im wilden, nonformellen, informellen Lernbereich des Lebens.
Ich glaube, es wird schon wieder klar: “Keine Bildung ohne Medien” oder “Lernen mit Neuen Medien” oder: “Wie kommt Web 2.0 in die Schule” … das alles trifft es irgendwie nicht. Auch nicht mehr “immerhin”.
Besonders scharf aber finde ich den aufkeimenden Gedanken, dass sehr wahrscheinlich nicht in den westlichen Schulen und Schulsystemen das neue, dem digitalen Zeitalter angemessene Lernmodell emergiert, sondern in den ehemals “dritte Welt” genannten Ländern, vielleicht genau da, wo die Schulen des Industriezeitalters nicht hingefunden haben. Dort, wo gar nichts anders übrig bleibt, als Literacy gleich als Media Literacy zu bilden, weil sie anders gar nicht zu haben ist …
