Mein Ausgangspunkt für die Propagierung des Buchs von Helmut Willke sind zwei häufig von Lehrern beklagte Probleme, die nach der Lektüre besser zu verstehen sind. Und ein adäquates Verständnis von Problemen ist, wie wir wissen, die Voraussetzung für einen angemessenen Umgang mit ihnen.
Das erste Problem ist durch folgende Stichworte gekennzeichnet: Immer mehr „Risikoschüler“; immer mehr Schulversagen; immer mehr Schulangst (bei Schülern wie bei Lehrern, bei letzteren Burnout genannt); immer mehr Schulschwänzer; immer drängender die warnenden Stimmen aus Wirtschaft und Bildungsforschung, dass die Schule nicht (mehr) fürs Leben bilde. Und dies alles trotz mittlerweile 4 Jahrzehnte fortlaufender Reformbemühungen. Und dann das noch obendrauf: Knast für die schulschwänzenden 14-Jährigen als Therapie des Problems. Und das bei gleichzeitigen Sparmaßnahmen und Kürzungen an verschiedenen Stellen des Bildungssystems. Irgendetwas läuft doch ganz offensichtlich dauerhaft und inzwischen schon generationenlang schief. Mancher möchte verzweifeln, weinen und laut schreien: „JA BEGREIFT IHR DENN GAR NICHTS?“
Und hier liegt das zweite Problem: Wer oder was ist „Schuld“ daran, dass alles beim Alten bleibt, obwohl man in vielerlei Hinsicht übereinstimmend weiß, wie es anders besser ginge? Oder anders: Was muss man tun, was bisher nicht getan worden ist, um endlich etwas Entscheidendes zu verändern? –
Diese Fragen sind im Dauerdiskurs seit Beginn meiner persönlichen Zeitrechnung, und (fast) immer wird in diesem Diskurs viel Zeit darauf verwendet, argumentierend zu entscheiden, ob es „DAS SYSTEM“ ist, das nichts taugt, oder die entsprechend fehlerhaften Personen oder Personengruppen, die „drin sind“. Mal sind es die faulen und unerzogenen Schüler, mal die „faulen Socken“ oder die „dummen“ oder „kinderfeindlichen“ Lehrer; mal sind es die verwöhnenden oder die ungebildeten Eltern, mal die „Herkunfts-Milieus“. Für andere ist es hingegen die Schulstruktur, oder es sind die veralteten Unterrichtsmethoden, die sich trotz der neuen hartnäckig behaupten; mal ist es auch das Schulsystem insgesamt und immer öfter auch einfach alles zusammen – irgendwie miteinander wechselwirkend.
Und entsprechend verschieden sind nicht nur die Lösungs- sondern auch die Strategievorschläge von „man kann nichts verändern“ über „jeder verändert etwas Kleines in seinem kleinen Umfeld“ bis hin zur großen Bildungsrevolution, die alles auf einmal shifted, switched und changed. Kann es mehr geben? Haben wir noch irgendetwas nicht versucht? Was haben wir übersehen? Irgendwo in diesem Haufen von Diagnosen, Therapien und Implementationsstrategien MUSS doch die richtige Lösung enthalten sein?
Jein. Denn während wir als Lehrer in einem Schulsystem arbeiten, das unter Lernen vor allem systematisches Lernen der von den modernen Wissenschaften abgeleiteten Realitätsmodelle und ihrer Begriffsapparate versteht, ist ausgerechnet das Verständniskonzept von der eigenen Tätigkeitswelt „Schule“ und das damit verknüpfte praktische „Lehrerhandeln“ meist einer bauchreflektierten Erfahrung überlassen. Denn was Schule ist, das weiß doch derjenige am besten, der jahrelang damit praktisch zu tun hat!
Bei all den Differenzen haben die verschiedenen Positionen in den oben genannten Diskursen tatsächlich etwas Entscheidendes gemeinsam: Sie entstehen im Austausch und in der Reflexion von Praxiserfahrungen der Akteure, seien es Lehrer, Schulleiter, Schuladministratoren oder Eltern. Nicht zu vergessen die Massenmedien, in denen diese Positionen als Erfahrungen seit einigen Jahren ständig abwechselnd publiziert und damit immer wieder bestätigt werden. Als Wissenschaftler dazu gebeten werden dann Neurobiologen, Didaktiker, Pädagogen, Psychologen – Experten im Feld, die auch entweder diese oder jene Positionen bedienen.
Lehrer, Schüler, Eltern sind Experten von Schule. Sie erleben sie am eigenen Leib. Ja. Erfahrungswissen ist in vielen Fällen richtig und allemal besser als irgendwelche Erfindungen vom grünen Tisch.
Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass man nicht alles – und manchmal eben sogar das Entscheidende – nicht sehen kann, wenn man zu nah dran ist oder sogar mittendrin steht. Nicht alles kann man mit Erfahrung und dem „gesunden Menschenverstand“ verstehen, obwohl selbst jener eine handfeste Ahnung des Problems in der Metapher hat, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Denn genauso ist es. Mehr Abstand ist nötig. Das bedeutet erkenntnistheoretisch: eine höhere Abstraktionsstufe. Und wir müssen gleichzeitig raus aus dem didaktisch-methodischen, und sogar aus dem pädagogischen Selbstgespräch und uns das ganze Geschehen aus Sicht der Gesellschaftstheorie anschauen.
Die Soziologie, und dort die moderne Systemtheorie hat einen anderen Blickwinkel bzw. einen allgemeineren Gegenstand, in dem gleichwohl unsere Schüler, Kollegen, Schulen und Bildungswesen enthalten sind. Sie kann uns helfen zu verstehen,
- warum trotz unserer langjährigen Unterrichtserfahrung, ausgefeilter didaktisch-methodischer Konzepte viele Schüler oft nicht das lernen, was wir (!) möchten, oder es nicht so gut lernen, wie sie sollten;
- warum trotz all unseren Engagements die Schüler zum Lernen zu motivieren, insgesamt immer weniger Schüler Lust auf Unterricht haben und die Absentismuszahlen sowie die ADHS- und Depressions-Diagnosen steigen;
- warum selbst gute Schüler heilfroh sind, wenn sie den Laden endlich hinter sich haben und das „wirkliche Leben“ beginnen können;
- warum immer mehr Lehrer die Pensionsgrenze nicht im Amt erreichen und immer mehr Lehrer Teilzeit arbeiten, wenn sie es sich finanziell leisten können, auch wenn sie keine Kinder zu versorgen oder Eltern zu pflegen haben;
- warum immer mehr Lehrer nach Jahren unterschiedlicher Reformbemühungen resignieren, zynisch werden, aus dem Beruf aussteigen, an eine Privatschule wechseln oder eine solche gründen;
- warum immer mehr Eltern sich große Sorgen um die psychische Gesundheit und den Lernerfolg ihrer Kinder machen müssen, obwohl sie zuhause alles tun, um ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen;
- warum, obwohl pausenlos an diesen Problemen entlang gedacht, konzipiert und administriert wird, statt Besserung sogar Verschlechterung eintritt;
- warum das Beharrungsvermögen des Alten überall so groß ist, obwohl doch die Spatzen schon so lange von den Dächern pfeifen, wie es besser ginge;
- warum neue Konzepte hier funktionieren, dort aber nicht;
- warum die meisten Reformen nicht bringen, was man sich von ihnen erhofft;
- warum DAS SYSTEM eine so unglaubliche Starre an den Tag legt;
- warum (Um-)Lernen so schwer ist;
- unter welchen Bedingungen (Um-)Lernen trotzdem möglich ist;
- was wir dafür tun können, damit diese Bedingungen eintreten;
und last not least
- welche Bedeutung Personen in Systemen einnehmen, welche Macht sie haben und welche nicht.
DENN WIR MÖCHTEN JA, DASS SICH ETWAS ÄNDERT! Die Schüler sollen sich ändern und (besser) lernen, also bessere Schüler werden. Die Schule, an der wir arbeiten soll sich ändern und zu einem befriedigenden Arbeitsplatz werden. Das Schulsystem soll sich ändern und ein besseres Bildungs“wesen“ werden, in dem die Probleme nicht mehr auftauchen, unter denen alle irgendwie leiden. Als Lehrer, Lehrerbildner, Schulentwickler wollen wir Änderungen herbeiführen, die wir für notwendig und richtig halten, indem wir „intervenieren“, zumindest versuchen wir solche Interventionen. Und die unbefriedigenden Ergebnisse unserer Änderungsversuche durch Intervention – sei es beim einzelnen Schüler, sei es bei unseren Kollegen, unserer Schule oder beim „Bildungswesen“ (das wir dann meist erst DAS SYSTEM nennen), die sind hier zu erklären.
Eine Leseprobe
„Selbst ein Kind kann die Spielregeln von Schach oder Go ziemlich schnell lernen. Aber es wird viele Jahre und erhebliche Mühe kosten, bis es eine gute Schachspielerin oder ein guter Gospieler geworden ist. In diesen Beispielen ist uns ohne weiteres klar, dass die souveräne Beherrschung eines Spiels zwei Stufen von Voraussetzungen hat: der Spieler muss die Spielregeln kennen – das ist die Grundvoraussetzung. Erst danach beginnt die eigentliche Kunst, innerhalb des von den Spielregeln vorgegebenen Rahmens Spielstrategien zu entwerfen, in denen die Restriktionen und Möglichkeiten des Spiels auf immer wieder überraschende und innovative Weise genutzt werden, um zu gewinnen.
Übertragen wir diese Metapher auf moderne Organisationen, d.h. auf Organisationen im dynamischen und hochkomplexen Umfeld moderner Gesellschaften, dann ist eine bestürzende Einsicht nachgerade unvermeidlich: Jederman [sic] und jedefrau, am nachdrücklichsten sogar die Betroffenen selbst, erwarten von Managern, Organisationsberatern, Aufsichtsräten, Projekt- oder Unternehmensleitern brilliante [sic] und erfolgreiche Strategien in einem Organisations-Spiel, dessen Regeln diese Akteure kaum kennen. Komplexe Organisationen wie etwa Unternehmen, [ergänze: Schulen], Forschungsinstitute, Entwicklungshilfeeinrichtungen oder politische Institutionen machen den zweiten Schritt vor dem ersten, weil sie annehmen, sie hätten die Regeln des Spiels schon verstanden. Das ist ein verhängnisvoller Irrtum. Sie spielen immer noch ‚Mensch-ärgere-dich-nicht‘ oder bestenfalls ‚Dame‘, während das Spiel sich bereits zu einem mehr-dimensionalen Schach transformiert hat. Schlimmer noch: Betrachtet man die gegenwärtige Lage genauer, so erweist sich, dass in vielen Hinsichten gar nicht klar ist, welches Spiel überhaupt gespielt wird und welche Regeln gelten sollen.“ (175)
Die Leseprobe steht hier nicht nur ihres nützlichen Inhalts wegen. Sie zeigt auch, dass „hohe Theorie“ weder praxisfern noch unverständlich präsentiert werden muss. Helmut Willkes Bücher zeichnen sich genau dadurch aus, dass sie auf vorbildliche Weise die von Praktikern als sperrig und abgehoben verschriene moderne Systemtheorie anschaulich und gut verständlich erläutern. Und dies ohne dabei durch Simplifizierungen die Komplexität dieses Erklärungsmodells menschlicher Praxis (denn das ist sozialwissenschaftliche Theorie) zu verfälschen bzw. zu trivialisieren. Das ist m.E. eine Kunst, die nur ganz wenige in Deutschland beherrschen.
Ein zweiter Vorzug des Buches: Es stellt grundlegende Voraussetzungen zu seinem eigenen Verständnis im ersten Teil bereit. Das bedeutet: Man bekommt ein basales Verständnis systemtheoretischen Denkens mitgeliefert, wenn es um die Anwendung dieses Denkens auf das spezielle Feld „Intervention“ geht. Es ist also nicht unbedingt nötig, Willkes „Systemtheorie I“ gelesen zu haben, bevor man sich an diesen Band macht. Und im zweiten Teil der „Bereichsstudien“ wird dann immer so viel aufbauendes und vertiefendes Theoriewissen entfaltet, wie zum Verständnis der Praxisbeispiele jeweils gerade nötig ist.
Soviel zur Formseite der Form-Inhalt-Medaille meiner Begeisterung.
Aber jetzt zum Inhalt: Was gibt es bei Willke für Lehrer zu holen?
1. Wir bekommen einen Anstoß, eine Anleitung, eine Verführung zum Umdenken. Wenn unser bisheriges Verständnis ja offenbar weder ausreichte, um erfolgreich zu lehren, zu entwickeln, zu intervenieren, noch dafür, wenigstens ausreichend zu erklären, warum nicht, – dann können wir uns dieses Verständnis mit Willke mal vorknöpfen:
In der Regel handeln wir in Schule und Erziehung immer noch auf Basis der Vorstellung, dass sowohl unsere Schüler (Menschen, denen wir etwas „beibringen“ wollen) als auch unser Arbeits“platz“ (im weitesten Sinne Ort unserer Lehrtätigkeit) berechenbare „Trivialmaschinen“ sind, die wir mit Informationen (Daten, Argumenten, Urteilen, Anweisungen) füllen (Input) und dafür von ihnen ein wenigstens im Groben vorhersagbares Ergebnis erhalten (Output). Natürlich klappt das nicht immer, wie wir häufig erfahren müssen. Aber wenn das tatsächliche Ergebnis nicht unseren Erwartungen entspricht oder das Objekt unserer Bemühungen nicht wunschgemäß reagiert, dann erklären wir entweder die „Trivialmaschine“ (den Schüler, die Kollegin, die Schule, das System) für fehlerhaft, oder aber wir meinen, nicht genügend oder nicht mit den richtigen Methoden unseren Input verabreicht zu haben. Und dann beginnt das Spiel der Appelle, Mahnungen und Sanktionen bzw. der Wiederholungen, Intensivierungen und methodischen Variationen. Diese Abfolge von > Ergebniserwartung > „Unterrichten“ > Enttäuschte Erwartungen > Bestrafung bzw. optimiertes „Unterrichten“ (je nach Diagnose der Ursache) können wir bis an unser Lehrerlebensende fortsetzen und uns immer mehr darüber ärgern, wie wenig wir eigentlich bewirken. Wenn wir unsere Ohnmachtserlebnisse dabei nicht genießen, können wir stattdessen mal Folgendes probieren:
2. Wir können den üblichen Verständnisrahmen – versuchsweise und vorübergehend – weglegen und mit einem systemtheoretischen Rahmen vertauschen. Nur mal gucken, wie die Dinge in diesem für uns ungewohnten Rahmen dann aussehen:
Wir betrachten dann Menschen als „psychische Systeme“ und Gruppen (die Klasse, das Kollegium) sowie Organisationen (die Einzelschule) und Behörden (das Bildungssystem) als „soziale Systeme“.
Die Beispiele in den anschaulichen Bereichsstudien Wilkes, die den Hauptteil des Buchs ausmachen, betreffen Therapie (psychisches System), Organisationsberatung (soziales System auf Ebene der Organisation mit vorwiegend Beispielen aus Unternehmen) und Politik (soziales System auf der Ebene gesellschaftlicher Subsysteme). Damit kommen Schüler, Schule, Bildung zwar explizit nicht eben häufig vor. Aber die Parallelen drängen sich in meinen Augen förmlich auf und die Erkenntnisse aus den Beispielen sind leicht zu übertragen. Und durch die Transferbemühungen – wir Lehrer kennen das – lernen wir die Theorie besser zu verstehen.
3. Was erfährt man über die Eigenschaften lebender Systeme?
- Sie sind nichttriviale, komplexe Systeme. (Zu komplex für einen einfachen Input-Output-Mechanismus.)
- Sie organisieren ihre Komplexität mit einem eigenen selbstgebildeten basalen Operationsmechanismus. (Sie sind keine Kopie von irgendetwas, sondern autonom – nicht autark!)
- Sie sind operativ geschlossen – anders könnten sie ihre Identität nicht bewahren, sondern würden sich in ihre Umwelt hinein auflösen und dabei selbst vernichten.
- Sie haben neben der operativen Geschlossenheit des basalen Operationsmechanismus auch eine partielle Öffnung in die Systemumwelt, einen Anpassungsmechanismus, einen Lernmodus, mit dem sie aus dem Chaosrauschen ihrer jeweiligen Umwelt(en) Informationen ausfiltern und weiter verarbeiten. Welche Informationen auch immer es sind, und mit welchem Ergebnis auch immer sie weiterverarbeitet werden: Sie können immer nur nach den systemeigenen Regeln ausgewählt und verarbeitet werden! – Das System reproduziert sich auf diese Weise selbst und erhält sich am Leben.
- Dabei muss es auch systemirritierende Reize verarbeiten. Es muss auch die Möglichkeit haben zu entscheiden, sich selbst zu ändern, um auch in veränderter Umwelt bestehen zu können. Das System muss also sich selbst ändern (können) bei gleichzeitiger Beachtung bzw. auf der Basis seiner eigenen (bisherigen) Systemregeln.
- Die Bedingung für Änderung (Lernen) ist also: Das System muss sich ändern und gleichzeitig identisch bleiben. Dieses Paradox lässt sich nur auflösen durch Temporalisierung, d.h. in einem stufenweisen Prozess. Etwas bleibt gleich, etwas wird verändert. Nach und nach kann das ganze System sich verändern und dabei identisch (unzerstört) bleiben. Wir müssen dafür unterscheiden zwischen Struktur und Prozess. Aus Sicht der Prozessebene ist dann Identität tatsächlich eine dauernde Abfolge von veränderten Identitäten.
- Jedes einzelne System hat also einen wirklich einmaligen „Mechanismus“, nach dem es „tickt“, den es selbst entwickelt, den es selbst steuert und den es nur selbst ändern kann.
Was daraus für unsere Lehr- bzw. Interventionstätigkeit folgt, damit sie erfolgreich sein kann, liegt auf der Hand: Wir Lehrer treten sowohl den psychischen als auch den sozialen Systemen, mit denen wir es zu tun haben, auch selbst als ein (psychisches) System entgegen und sind für sie, die ihrerseits für uns Umwelt(en) sind, deren Umwelt. Heißt: Nur, wenn es uns gelingt, mit unseren „Interventionen“ Anschluss an die Operationsmechanismen der psychischen Systeme, in die wir intervenieren wollen, zu finden, können sie das, was wir „rüberbringen“ wollen, verarbeiten. Wir müssen also Anschluss finden an jeden einzelnen Schüler. Diese aber kennen wir in Wirklichkeit nicht, zumindest weniger, als wir immer glauben, und wahrscheinlich nicht bezüglich ihrer persönlichen systemeigenen Operationsweise.
Das klingt so banal. Und deswegen wird die Konsequenz dieser Erkenntnis in ihrer ganzen Tragweite eben meist gar nicht erfasst. Denn selbst konstruktivistische Lerntheorien reduzieren die Anschlussfrage immer auf den Inhalt des Lernstoffs und beziehen sich nicht auf den gesamten operativen Mechanismus des Lebensvollzugs des Lernenden, denn auf der konkreten Ebene lässt er sich wegen seiner Komplexität und seiner Individualität ja gar nicht kennen. D.h. sie beschäftigen sich nur mit der Seite des Lebens und Lernens, die mit dem „Kerngeschäft“ der Schule zu tun hat. Dabei trivialisieren sie das Anschlussproblem hinsichtlich der psychischen Systeme, mit denen sie es zu tun haben. Andererseits bekommen sie Anschluss an die Operationsweise des Systems Schule mit ihrem Unterricht. Das „Vorwissen“ der Schüler abzufragen, um daran sinnvoll mit passendem Unterricht anschließen zu können, ist inzwischen üblich. Oder: Die Vorstellung, dass die Schüler „missconceptions“ als mentale Modelle mitbringen, die durch bessere „conceptions“ ersetzt werden. Oder: Es wird eine „Diagnose“ oder eine „Lernstandserhebung“ durchgeführt und mit Lernmethoden oder Stoff daran angeschlossen: „Dieser Schüler muss mehr jenes üben, weil dieses die Voraussetzung für jenes ist und er dies noch nicht kann.“ Das „psychische System“ wird reduziert auf den Teil „Umgang mit schulischen Stoffen“. Es wird vorausgesetzt, dass der Schüler tut, was er soll. Aber warum sollte er?
Das Ganze und nicht nur ein Teil des operativen Mechanismus zu beachten heißt aber vor allem, dass die „innere Zustimmung“ der Schüler zum Lernen des verordneten Stoffes und zu der Art und Weise, wie er gelernt werden soll, entscheidend ist. Und genau dies Entscheidende ist in aller Regel gar nicht Gegenstand der schulischen Wirklichkeit. Denn Schule als soziales System hier und heute (also konkret historisch) setzt diese Zustimmung per Dekret als gegeben voraus und bildet ja auch hier genau sein eigenes Systemparadox. Denn zum erfolgreichen Lernen muss die „innere Zustimmung“ aus dem (psychischen) System kommen. Zur Systemerhaltung der Schule als soziales System, wie es gerade ist, müssen die Schüler jedoch gezwungenermaßen anwesend sein. Erfolgreiches Lernen in der Schule müsste aber streng genommen sogar von jedem einzelnen Schüler zu jedem Zeitpunkt konkret „die Zustimmung einholen“. Denn nicht das lernende System muss Zustimmung, also Anschluss herbeiführen. Sondern die „Ansage“ aus der Umwelt (psych. System Lehrer) muss den Anschluss an den einzelnen Operationsmechanismus (des psych. Systems Schüler) in seinem jeweiligen Status finden. Denn alles, was nach dessen Kriterien nicht „passt“, also so irritierend ist, dass es nicht verarbeitet werden kann, wird entweder ignoriert oder abgewehrt.
Wenn wir so gerne sagen, dass wir die Schüler „da abholen“ müssen, wo sie sind, dann trifft das insofern den Kern der systemtheoretischen Erklärung für gelingende Intervention, als es die gesamte Person, das ganze einzelne „psychische System“ und seine Existenz betrifft. Als erstes ist für die Anschlussfähigkeit des intervenierenden Systems also unabdingbar, das zu intervenierende System in seiner Autonomie und Integrität zu respektieren.
Das System Schule arbeitet jedoch regelmäßig mit „linearer Intervention“. Das sind im Fall Unterricht vor allem vorgegebene Curricula, Belehrung, Fremdbewertung, Drohung, Sanktionen. Sie stammen in der Regel aus der Logik der Systemumwelt der Schüler und nicht aus der Logik ihrer eigenen Systeme. (Schulen, die hohe Schülerbeteiligung in allen Fragen haben – also auch in Fragen der Schulregeln und deren Einhaltung – wie etwa die Sudburry-Schulen haben diese Lektion gelernt und bieten hohe Anschlussfähigkeit zwischen dem sozialen System und den psychischen Systemen.)
„Lineare Intervention arbeitet gegen das System, um es zu seinem Glück zu zwingen, während paradoxe Intervention mit Hilfe des Systems eine neue Identität des Systems generiert. Lineare Entwicklung [z.B. in der Schulentwicklung] verlängert die Misere der Gegenwart in die Zukunft, weil sie einer ‚Logik des Mißlingens‘ folgt, die in der Konfrontation einfacher Modelle mit komplexen Realitäten nicht zu vermeiden ist. Systemische Entwicklung dagegen setzt auf die Anstrengung adäquater Modellierung und die Leichtigkeit selbstgewählter Veränderungspfade. Sie nimmt zur Kenntnis, dass im ‚Normalfall‘ die Lösung das Problem ist und verwendet deshalb enervierende Sorgfalt auf die Rekonstruktion des Problems. Ihre Lösungen zielen nicht auf eine Trivialisierung des Problems, sondern darauf, sich geradezu von selbst zu empfehlen, wenn erst einmal Kontext und Komplexität des Problems deutlich geworden sind.(188)
Wenn wir aus dem deutschen Schulsystem gebetsmühlenartig zu hören bekommen, dass wir nicht Finnland seien, und uns darum auch kein Beispiel an Finnland nehmen könnten, dann liegt die systemtheoretische Erklärung in der Angst um die Identität und damit das Weiterbestehend des eigenen deutschen Systems. Die Finnen übrigens, die natürlich dieselbe Systemparadoxie in ihrem Bildungssystem haben, gehen anders mit ihr und mit ihren Schulschwänzern um. Die Lehrer bemühen sich um sie, besuchen sie zuhause, versuchen die Schüler wieder zum Schulbesuch anzuregen, zu verführen, zu überreden. Wenn das nicht gelingt, dann lassen sie sie. „Lassen“ ist keine spezifische Operationsweise des deutschen Schulsystems. Aber in einer erweiterten Systemidentität, die sich als lernendes System verstehen könnte, könnte „Lassen“ in den Pool der Operationsweisen aufgenommen werden, ohne die Identität des deutschen Systems zu zerstören, oder nicht? Denn:
„Für nichttriviale Systeme ist Identität nicht gegeben sondern aufgegeben; und Veränderung ist der Modus einer Kopplung von System und Umwelt, in welcher das System seine operative Schließung nutzt, um aus Umweltereignissen Bedeutungen zu konstruieren, die ihm eine Fortsetzung seiner Existenz im Kontext laufender Veränderungen ermöglichen.“ (140)
Wie lernen eigentlich soziale Systeme, also Organisationen (eine Schule) oder gesellschaftliche Subsysteme (das Bildungswesen)?
Zwar lernen Organisationen, indem die an ihnen beteiligten Personen lernen. Aber das Lernen der Organisation ist nicht mit dem Lernen dieser Personen identisch. Und mehr noch:
„When placed in the same system, people, however different, tend to produce similar results“ zitiert Willke Pete Senge und erklärt: „Organisationen (…) sind die Mythen der Moderne. Sie haben ‚hinter dem Rücken der Akteure‘ in ihren Spezialsemantiken und den darin eingebauten Erwartungs- und Entscheidungsmustern eigenständige Realitäten erzeugt, die nicht mehr allein auf die Handlungen von Personen zurückführbar sind.“ (159)
Soziale Systeme bestehen entgegen der üblichen Alltagsannahme nicht aus Personen, sondern aus Kommunikationen, an denen die Personen teilnehmen.
Das lässt sich leicht klarmachen, wenn wir uns vorstellen, dass eine Schule im Wesentlichen dieselbe bleibt, auch wenn ihre Schülerschaft und das Kollegium, bzw. die Schulleitung in ihren Personen einem ständigen Austausch unterliegt.
Das Bemerkenswerte dabei ist, dass die Macht dieser Kommunikationsweisen vom System verborgen und Zustände oder Prozesse auf die Merkmale einzelner Personen oder Personengruppen reduziert werden. („Der Lehrer, der Burn out bekommt, hat halt kein professionelles Zeitmanagement gekonnt oder war schon immer labil“; „der Schüler, der beim Abitur durchgefallen ist, hat nicht genug ‚gelernt‘“;„diese Schüler aus bildungsfernen Elternhäusern machen mir den Unterricht kaputt“; „die meisten Lehrer sind heutzutage faule Socken oder unfähig“.) Auf der einen Seite gibt es in sozialen Systemen die „organisierte Verantwortungslosigkeit“ (Ulrich Beck) – ich denke sofort an Fukushima, weil ich nicht schon wieder an Eichmann denken will. Auf der anderen Seite ist „die Suche nach „Schuldigen“ nach wie vor eine Suche nach schuldigen Personen.“ (154)
Und ja: „Auf der anderen Seite ist immerhin nicht ausgeschlossen, dass Personen einen Unterschied ausmachen. Sie tun dies, indem sie – und nur indem sie – Regeln und mithin Strukturen und mithin Erwartungen und mithin Wirklichkeiten verändern oder neu schaffen. Dieses Veränderungspotenzial von Personen ist umso ausgeprägter, je stärker Personen unterschiedlichen Referenzrahmen ausgesetzt sind (oder in den Begriffen der Rollentheorie: je vielfältigere Rollenaspekte sie bündeln und in Rollendivergenzen und Rollenambiguitäten aushalten können). Dies ist einer der Gründe, warum „job rotation“ oder Mehrfachqualifikationen von Mitgliedern in komplexen Organisationen unabdingbar für organisationale Lernprozesse werden.“ (153)
„Tatsächlich läuft die Veränderung von Organisationen (…) darauf hinaus, nicht Personen zu verändern, sondern die in den Organisationen geltenden Regelsysteme. (…) Die Kunst der Organisationsberatung ist die Kunst des Auswechselns von Regeln für das Machen und Verstehen von Entscheidungen. (…) Auch diese Formel besagt nicht, dass Personen irrelevant wären. Sie können nicht irrelevant sein, da es Personen in ihrer Rolle als Organisationmitglieder sind, die Entscheidungen machen und verstehen müssen. Aber sie machen und verstehen diese Entscheidungen nach Regeln, die von den Personen ‚abgezogen‘ und in der Systemstruktur zugleich auf Dauer und auf Kontingenz (d.h. auf Veränderbarkeit durch Entscheidung) gestellt sind. (…) [So] machen nicht Lehrer und Schüler eine Schule, sondern die Schule organisiert sich Lehrer und Schüler so, dass das Regelsystem ‚Schule‘ ablaufen kann.“ (155)
Peter Senge, der Autor der “5. Disziplin” einer lernenden Organisation kommt bei Willke ausführlich zu Wort. Hier sind seine Interventionsregeln, über die man als Lehrer, Fortbildner, Schulentwickler hinsichtlich der Gültigkeit für die eigene Praxis meditieren kann:
